Was der Vagusnerv mit Selbstregulation zu tun hat und wie du ihn stärken kannst

Mich fasziniert am Vagusnerv, wie deutlich sich an ihm die Verbindung zwischen Körper und Psyche zeigt.
Er überträgt Signale vom Körper an das Gehirn – über Herzschlag, Atmung, Spannung, Temperatur – und beeinflusst damit, wie wir uns innerlich erleben.
Das bedeutet: Gefühle entstehen nicht nur im Kopf, sondern aus der Wahrnehmung körperlicher Zustände.
Wenn über den Körper Signale eintreffen, dass keine Aktivierung mehr nötig ist, verändert sich auch die Qualität der Wahrnehmung:
Kognitive und emotionale Prozesse verlaufen nicht getrennt, sondern wirken zusammen. Und das bedeutet für uns als Mensch: Wir erleben uns nicht mehr als Kopf oder Gefühl.
Und wenn Denken und Fühlen sich gegenseitig ergänzen, sind wir auf dem Weg zu innerer Ruhe.
Wenn der Stress dich aus dem Gleichgewicht bringt
Kennst du diese Momente, in denen du merkst, dass dein Körper auf Stress reagiert, bevor dein Kopf es überhaupt mitbekommt?
Der Atem wird flach, die Muskeln spannen sich an und deine Aufmerksamkeit verengt sich auf das Nächste, was zu tun ist.
Neurobiologisch gesehen aktiviert sich in diesem Moment das autonome Nervensystem.
Es stellt den Organismus auf Handlung ein – auf Schutz, Leistung oder Abwehr. Diese Aktivierung ist keine bewusste Entscheidung, sondern ein automatischer Reflex, der uns über Jahrtausende am Leben gehalten hat.
Bleibt sie jedoch länger bestehen, auch wenn keine akute Aufgabe oder Bedrohung mehr da ist, entsteht ein Zustand innerer Dauerbereitschaft.
Der Körper bleibt aktiv, obwohl der Kopf längst erkannt hat, dass Ruhe möglich oder sogar notwendig wäre.
Genau hier beginnt der Punkt, an dem Selbstregulation entscheidend wird und an dem der Vagusnerv eine zentrale Rolle spielt.
Der Vagusnerv – dein inneres Regulierungssystem
Der Vagusnerv ist der längste Nerv deines parasympathischen Nervensystems.
Er zieht vom Hirnstamm über Hals, Herz und Lunge bis in den Verdauungstrakt.
Über seine feinen Verzweigungen steht er in ständigem Kontakt mit fast allen lebenswichtigen Organen.
👉 Etwa 70 bis 80 Prozent seiner Nervenfasern leiten Signale vom Körper zum Gehirn – also von unten nach oben.
Das erklärt, warum Körperübungen, Atmung oder Berührung so stark auf unser Erleben wirken können:
Das Gehirn hört auf den Körper.
Wenn dein Vagusnerv gut reguliert ist, reagiert dein System flexibel:
Du kannst dich beruhigen, präsent bleiben und klar handeln – auch unter Druck.
Ist er jedoch überlastet, übernimmt der Sympathikus: Kampf, Flucht oder – wenn das nicht mehr möglich ist – Erstarrung.
Was bei Stress wirklich passiert
Stress ist kein Gefühl, sondern ein physiologischer Zustand.
Er entsteht, wenn das autonome Nervensystem auf erhöhte Aktivität schaltet, weil es einer Handlung erwartet.
Das System funktioniert hier präzise: Es schützt dich, indem es Energie bereitstellt und Wahrnehmung auf das Nötige fokussiert.
Problematisch wird es erst, wenn dieser Zustand bestehen bleibt, obwohl keine Handlung mehr erforderlich ist. Dann bleibt der Körper aktiv, während der Verstand längst signalisiert, dass die Situation vorbei ist.
Erst wenn über den Körper Signale eintreffen, dass keine Aktivierung mehr notwendig ist, kann das Nervensystem wieder umschalten. Vom Modus der Reaktion in den der Regeneration.
Diese Rückmeldung läuft nicht über Gedanken, sondern über körperliche Wahrnehmung: Atmung, Muskeltonus, Herzschlag, Temperatur, Haltung. Sie sind die Sprache, über die das Nervensystem erkennt, dass Ruhe wieder möglich ist.
Ein kurzer Blick in die Polyvagal-Theorie
Die Polyvagal-Theorie des Neurobiologen Stephen Porges beschreibt, dass das autonome Nervensystem mehr als nur zwei Zustände kennt.
Neben Aktivierung und Erholung gibt es einen dritten: den Zustand des Rückzugs oder der Erstarrung.
Nach diesem Modell reagiert das Nervensystem nicht nur auf körperliche Reize, sondern auch auf soziale Signale – etwa auf Stimme, Mimik oder Blickkontakt.
Diese Reize werden über den sogenannten ventralen Vagus verarbeitet, der an die Muskulatur des Gesichts, des Kehlkopfs und der Atmung gekoppelt ist.
Wenn diese Signale freundlich oder zugewandt sind, kann der Körper wahrnehmen, dass keine Handlung nötig ist.
Die Theorie unterscheidet drei Hauptzustände:
Ventrale Vagusaktivität – Ruhe, Kontakt und soziale Verbundenheit.
Sympathische Aktivierung – Vorbereitung auf Kampf oder Flucht.
Dorsale Vagusaktivität – Rückzug, Taubheit oder Kollaps.
Diese Einteilung ist in der Wissenschaft nicht unumstritten, hat aber die Sicht auf Stress und Selbstregulation entscheidend verändert.
Für die Praxis ist vor allem eines bedeutsam:
Das Nervensystem reagiert fortlaufend auf Signale von Aktivierung oder Entlastung – und wir können über den Körper beeinflussen, welche dieser Rückmeldungen ankommen.
Der Vagusnerv lässt sich nicht einfach „anschalten“
Man liest häufig, man könne den Vagusnerv aktivieren, als wäre er ein Schalter, den man nur betätigen muss. Neurobiologisch funktioniert das so nicht.
Der Vagusnerv ist kein einzelner Hebel, sondern ein komplexes Netzwerk aus sensorischen und motorischen Fasern, das den Zustand des Körpers kontinuierlich erfasst und reguliert.
Tatsächlich reagiert er auf wiederkehrende körperliche Rückmeldungen, nicht auf Willensanstrengung.
Diese Umschaltung geschieht nicht im Kopf, sondern über den Körper.
Erst wenn über Atmung, Muskelspannung, Stimme oder Berührung konkrete Signale von Entlastung eintreffen, kann das Nervensystem in den Ruhemodus wechseln.
Langsame Atmung, sanftes Summen, kurze Kältereize im Gesicht oder Selbstberührung sind dabei keine „Techniken“, sondern Wege, über die das System wahrnimmt: Jetzt ist keine Aktivität mehr nötig.
Je regelmäßiger diese Rückmeldungen erfolgen, desto stabiler lernt der Körper, zwischen Anspannung und Ruhe zu wechseln.
Selbstregulation entsteht also nicht durch Kontrolle, sondern durch Wiederholung von Körpererfahrungen, die dem Nervensystem zeigen, dass es loslassen kann.
Selbstmitgefühl – die innere Haltung, die Regulation ermöglicht
Selbstmitgefühl ist kein Wellness-Konzept, sondern eine neurobiologisch wirksame innere Haltung.
Sie verändert, wie das Nervensystem auf Belastung reagiert. Wenn du dir in angespannten Momenten mit Freundlichkeit statt Kritik begegnest, sinkt der innere Widerstand – und mit ihm der körperliche Stresspegel.
Die Psychologin Kristin Neff beschreibt drei Kernaspekte des Selbstmitgefühls:
- Selbstfreundlichkeit – einen freundlichen inneren Ton wählen, statt dich zu verurteilen.
- Gemeinsames Menschsein – erkennen, dass Stress und Überforderung Teil menschlicher Erfahrung sind.
- Achtsames Wahrnehmen – Gefühle und Körperreaktionen sehen, ohne sie zu vermeiden oder zu bekämpfen.
Diese Haltung verändert die Rückmeldungen, die dein Nervensystem erhält. Wenn du mit dir in Kontakt bleibst, kann der Körper wahrnehmen, dass keine Abwehr mehr nötig ist.
Selbstmitgefühl wirkt deshalb nicht über Gedanken, sondern über den Körper. Es schafft die Bedingungen, unter denen Regulation überhaupt erst stattfinden kann.
Drei einfache Wege, wie du über den Körper wieder zu dir findest
Der Körper ist der erste Ort, an dem sich Stress zeigt – und der einzige, über den er sich wirklich lösen kann. Selbstregulation entsteht, wenn du wahrnimmst, wie sich Anspannung verändert, und nicht, wenn du sie aktiv „bekämpfst“.
Jede Form körperlicher Rückmeldung wirkt wie ein inneres Signal: Atmung, Muskeltonus, Berührung, Bewegung. Sie alle geben dem Nervensystem die Information, dass keine Handlung mehr erforderlich ist.
Du kannst das auf verschiedene Weise unterstützen:
Es geht nicht darum, etwas zu tun, damit du dich beruhigst, sondern darum, wahrzunehmen, wie dein Körper sich selbst beruhigen kann, sobald du ihn lässt.
Auch dein Lebensstil spielt eine Rolle
Das Nervensystem reagiert nicht nur auf einzelne Reize, sondern auf die Gesamtheit deiner Lebensmuster. Wie du schläfst, dich bewegst, isst und mit anderen in Kontakt bist, formt täglich die Grundaktivität deines Vagusnervs.
Regulation ist deshalb kein isoliertes Ereignis, sondern ein Prozess, der in deinen Alltag eingebettet ist.
Je konsistenter dein Lebensrhythmus Signale von Vorhersagbarkeit bietet, desto leichter findet das Nervensystem zurück in die Ruhe.
Fazit: Selbstführung beginnt im Nervensystem
Selbstregulation ist kein mentaler Akt, sondern ein körperlicher Prozess.
Das Nervensystem schaltet erst dann in den Ruhemodus, wenn über den Körper Signale eintreffen, dass keine Aktivierung mehr notwendig ist.
Diese Signale entstehen nicht durch Kontrolle, sondern durch Wahrnehmung – durch Atem, Berührung, Bewegung, Rhythmus.
Wenn der Körper zur Ruhe findet, kann auch der Geist klarer werden. Du bist orientiert und präsent.
Es ist also wichtig, die Sprache deines Körpers zu verstehen.
FAQ – Häufige Fragen zum Vagusnerv und zur Selbstregulation
Wie merke ich, dass mein Vagusnerv aktiv ist?
Ein gut regulierter Vagus zeigt sich daran, dass Herzschlag und Atmung flexibel auf Situationen reagieren.
Du kannst dich nach einer Belastung wieder beruhigen, bleibst präsent und empfindest innere Weite.
Typische Anzeichen sind ruhige Atmung, klare Wahrnehmung und ein stabiler Energiezustand.
Kann ich den Vagusnerv gezielt trainieren?
Nicht im Sinne eines Muskels – aber du kannst Bedingungen schaffen, unter denen er regelmäßig aktiv wird.
Wiederkehrende körperliche Signale wie ruhige Atmung, rhythmische Bewegung oder soziale Verbundenheit stärken seine Funktionsfähigkeit mit der Zeit.
Das Prinzip lautet: Regelmäßigkeit statt Intensität.
Warum hilft Atmung so stark bei Stress?
Die Atemfrequenz ist direkt mit dem Herzschlag über den Vagusnerv verbunden.
Langsames Ausatmen sendet über diese Verbindung Signale an das Gehirn, dass keine Handlung mehr erforderlich ist.
So kann der Körper von Aktivierung auf Regeneration umschalten.
Was passiert, wenn der Vagusnerv überfordert ist?
Bei chronischem Stress bleibt der Körper in einem Zustand erhöhter Aktivierung.
Dann verliert der Vagus seine Anpassungsfähigkeit – Regulation wird mühsamer, Erholung dauert länger.
Erst wenn wieder körperliche Entlastungssignale eintreffen, kann das Gleichgewicht zurückkehren.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Darm und Vagusnerv?
Ja. Der Vagusnerv ist die wichtigste Verbindung zwischen Darm, Immunsystem und Gehirn.
Er überträgt Informationen über Verdauung, Entzündungen und Stoffwechsel.
Eine gesunde Darmflora unterstützt deshalb indirekt auch die vagale Aktivität und emotionale Stabilität.
Wie kann ich im Alltag auf mein Nervensystem achten?
Indem du auf kleine körperliche Hinweise achtest: Atemrhythmus, Muskelspannung, Blickfeld, Müdigkeit.
Diese Signale zeigen, ob dein System gerade in Aktivierung oder in Ruhe ist.
Bewusstes Wahrnehmen – statt sofortigem Eingreifen – ist der erste Schritt zur Selbstregulation.

Marion Wandke
Seit über 15 Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, wie Menschen in komplexen Lebensphasen innerlich klar und handlungsfähig bleiben können. Mich interessieren besonders die Wechselwirkungen zwischen Denken, Fühlen und Körperwahrnehmung – dort, wo Selbstregulation gefordert ist.
Ich arbeite heute als Resilienz-Coachin mit Fokus auf humanistischer Psychologie und Psychotherapie, Neurowissenschaften und Embodiment. Mein Schwerpunkt liegt auf Selbstführung und Selbstregulation als Schlüsselkompetenz. Ich bin überzeugt, dass echte innere Stärke aus Klarheit, Werteorientierung und Selbstführung entsteht.