Acht­sam­keit: Das Fun­da­ment einer bewuss­ten Lebensführung

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Acht­sam­keit: Das Fun­da­ment einer bewuss­ten Lebensführung

Ein­lei­tung – warum ich die­sen Arti­kel schreibe

Wenn ich über Acht­sam­keit spre­che, meine ich nicht die Art von Tech­nik, die man übt, um ruhi­ger zu wer­den. Mich inter­es­siert, was in uns geschieht, wenn wir auf­hö­ren, stän­dig etwas zu tun – und uns ein­fach einen Moment lang wahr­neh­men. Viele Men­schen wis­sen theo­re­tisch, was sie tun soll­ten, um gelas­se­ner zu leben, und erle­ben doch, dass sie es im All­tag nicht umset­zen kön­nen.

Acht­sam­keit beginnt genau dort, wo Wis­sen in Erfah­rung über­geht. Sie hilft uns, wie­der zu spü­ren, wie leben­dig die­ser Moment ist, wenn wir wirk­lich anwe­send sind.

Warum schreibe ich die­sen Arti­kel? Weil ich zei­gen möchte, was Acht­sam­keit tat­säch­lich bedeu­tet – jen­seits von den übli­chen Schlag­wor­ten. Ich möchte die Viel­falt ihrer Facet­ten dar­stel­len: phi­lo­so­phisch, psy­cho­lo­gisch und neu­ro­bio­lo­gisch.

Die­ser Arti­kel ist bewusst aus­führ­lich ange­legt, fast wie ein klei­nes Nach­schla­ge­werk. Du kannst ihn kom­plett lesen oder dir die Abschnitte her­aus­su­chen, die für dich gerade rele­vant sind. In jedem Fall wirst du eine klare Linie fin­den:

Acht­sam­keit ist für mich die Grund­lage einer bewuss­ten Lebens­füh­rung – und genau darin liegt ihre Kraft.

Acht­sam­keit ist eine eigen­stän­dige Lebens­hal­tung. Sie bedeu­tet, mit Prä­senz, Klar­heit und Offen­heit im Moment zu sein.


Was Acht­sam­keit bedeu­tet – und was nicht

Oft erzäh­len mir Men­schen, dass sie nicht gut medi­tie­ren kön­nen, weil sie ihre Gedan­ken nicht los­wer­den. Aber darum geht es gar nicht. Gedan­ken los­zu­wer­den wäre wie Wol­ken am Him­mel fest­hal­ten zu wollen. 

Acht­sam­keit heißt, zu bemer­ken, dass da Gedan­ken sind – und ihnen nicht auto­ma­tisch zu fol­gen. Wenn du das übst, ent­steht ein klei­ner Zwi­schen­raum zwi­schen Reiz und Reak­tion. In die­sem Raum liegt Wahl­frei­heit – die Frei­heit zu ent­schei­den, ob du dei­nem ers­ten Impuls folgst oder eine andere, bewuss­tere Ant­wort wählst. Genau hier beginnt Selbstführung.

Acht­sam­keit heißt: die Auf­merk­sam­keit bewusst auf den gegen­wär­ti­gen Moment rich­ten, mit einer offe­nen und nicht-wer­ten­den Hal­tung. Es geht darum, wahr­zu­neh­men, was jetzt gerade da ist – Gedan­ken, Gefühle, Kör­per­emp­fin­dun­gen, äußere Ein­drü­cke – ohne sie sofort zu bewer­ten oder zu ver­än­dern.

Wich­tig ist die Abgrenzung:

  • Acht­sam­keit ist keine Ent­span­nungs­übung. Ent­span­nung kann eine Folge sein, aber nicht das Ziel.
  • Acht­sam­keit ist nicht Kon­zen­tra­tion. Kon­zen­tra­tion bün­delt Auf­merk­sam­keit eng, Acht­sam­keit bleibt offen und weit.
  • Acht­sam­keit ist nicht gleich Medi­ta­tion. Medi­ta­tion ist eine Methode, Acht­sam­keit eine Haltung.
  • Acht­sam­keit ist nicht Pas­si­vi­tät. Sie bedeu­tet nicht, alles pas­siv hin­zu­neh­men, son­dern das, was ist, klar zu sehen und dar­auf bewusst zu reagieren.

His­to­ri­sche und kul­tu­relle Wurzeln

Ich finde es fas­zi­nie­rend, wie alt das Bedürf­nis nach bewuss­ter Gegen­wär­tig­keit ist. Schon in den frü­hen Phi­lo­so­phien und Reli­gio­nen such­ten Men­schen Wege, sich im Strom des Lebens zu ver­an­kern. Wenn wir das betrach­ten, mer­ken wir: Acht­sam­keit ist nichts Moder­nes, son­dern ein uraltes Mensch­heits­thema. Viel­leicht ist das der Grund, warum sie uns heute wie­der so anzieht – weil sie uns an eine Qua­li­tät erin­nert, die in einer beschleu­nig­ten Welt ver­lo­ren zu gehen droht.

Acht­sam­keit ist keine moderne Erfin­dung. Schon seit Jahr­tau­sen­den fin­den sich Prak­ti­ken der bewuss­ten Gegen­wart in ver­schie­de­nen Kulturen:

  • Phi­lo­so­phie: In der Stoa lehr­ten Epik­tet und Marc Aurel, den Geist zu schu­len, um mit Klar­heit und Beson­nen­heit zu han­deln. Aris­to­te­les sprach von Eudai­mo­nia, einem gelin­gen­den Leben, das aus bewuss­ter Selbst­kul­ti­vie­rung erwächst.
  • Bud­dhis­mus: Hier ist Sati – Acht­sam­keit – ein zen­tra­ler Bestand­teil des Acht­fa­chen Pfa­des. Vipas­sana- und Zen-Medi­ta­tio­nen sind For­men geüb­ter Präsenz.
  • Christ­li­che Mys­tik: Kon­tem­pla­ti­ves Gebet, das Herz­ge­bet oder die Texte von Meis­ter Eck­hart zei­gen Wege der inne­ren Samm­lung und stil­len Aufmerksamkeit.
  • Isla­mi­scher Sufis­mus: Prak­ti­ken wie Dhikr (das wie­der­holte Erin­nern) die­nen dazu, bewusst im Augen­blick prä­sent zu sein.
  • Jüdi­sche Tra­di­tion: Psalm­re­zi­ta­tio­nen, Hit­bo­de­dut (das per­sön­li­che Gebet in Stille) kön­nen als For­men der Acht­sam­keit ver­stan­den werden.
  • Dao­is­mus und Yoga: Atem­übun­gen, medi­ta­tive Bewe­gung, Ver­sen­kung in den Fluss des Geschehens.

In der Moderne hat Jon Kabat-Zinn Acht­sam­keit durch sein Pro­gramm MBSR (Mindful­ness-Based Stress Reduc­tion) in die Medi­zin und Psy­cho­lo­gie gebracht.

In der Akzep­tanz- und Com­mit­ment-The­ra­pie (ACT) ist Acht­sam­keit ein zen­tra­ler Pro­zess, um Abstand zu Gedan­ken zu gewin­nen und hand­lungs­fä­hig zu bleiben.

Psy­cho­lo­gi­sche und neu­ro­bio­lo­gi­sche Grundlagen

Mich begeis­tert, wie sicht­bar die Ver­bin­dung zwi­schen Geist und Kör­per gewor­den ist. Acht­sam­keit wirkt nicht nur auf das Erle­ben, son­dern ver­än­dert mess­bar, wie unser Gehirn Reize ver­ar­bei­tet. Wenn du acht­sam atmest, beru­higst du dein Ner­ven­sys­tem – und gibst dei­nem prä­fron­ta­len Cor­tex die Chance, wie­der die Füh­rung zu über­neh­men. So ent­ste­hen neue Wege im Gehirn, kleine Resi­li­enz-Auto­bah­nen, die uns hel­fen, kla­rer und bewuss­ter zu han­deln. Das ist keine Theo­rie, son­dern Bio­lo­gie im Alltag.

Geist und Kör­per in Verbindung

Geist und Kör­per beein­flus­sen sich gegen­sei­tig in jedem Moment. Ein span­nen­der Film kann den Puls beschleu­ni­gen, Mus­keln anspan­nen und sogar Schweiß­re­ak­tio­nen aus­lö­sen.

Umge­kehrt wirkt der Kör­per auf den Geist: Wer tief und ruhig atmet, akti­viert das para­sym­pa­thi­sche Ner­ven­sys­tem und sen­det ein Signal von Beru­hi­gung.

Acht­sam­keit bringt genau diese Wech­sel­wir­kun­gen ins Bewusst­sein. Indem wir sie wahr­neh­men, kön­nen wir ler­nen, geziel­ter mit ihnen umzu­ge­hen – etwa, indem wir in Stress­mo­men­ten bewusst den Atem nut­zen, um Ruhe hereinzubringen.


Auf­merk­sam­keits­netz­werke

Im Gehirn gibt es ver­schie­dene Netz­werke, die für Auf­merk­sam­keit zustän­dig sind. Acht­sam­keit trai­niert drei Fähig­kei­ten, die im All­tag ent­schei­dend sind:

Fokus­sie­ren

Die Auf­merk­sam­keit gezielt hal­ten, wenn Kon­zen­tra­tion gebraucht wird (z. B. beim Arbei­ten oder Zuhören).

Umlen­ken

Die Auf­merk­sam­keit bewusst zurück­ho­len, wenn Gedan­ken abschwei­fen oder sich festhaken.

Wei­ten

Den Blick öff­nen, um die Gesamt­si­tua­tion im Auge zu behal­ten, statt sich in Details zu verlieren.

Diese drei Auf­merk­sam­keits­be­we­gun­gen“ erklä­ren, warum Acht­sam­keit nicht nur inner­lich wirkt, son­dern auch die Qua­li­tät von Arbeit, Bezie­hun­gen und Ent­schei­dun­gen beeinflusst.


Default Mode Net­work (DMN)

Das Default Mode Net­work ist ein Hirn­netz­werk, das aktiv wird, wenn wir nicht auf eine Auf­gabe fokus­siert sind – beim Grü­beln, Tag­träu­men oder inne­ren Krei­sen um uns selbst.

Dau­er­haft über­ak­tive DMN-Akti­vi­tät wird mit Unruhe und depres­si­ven Ten­den­zen in Ver­bin­dung gebracht. Acht­sam­keit redu­ziert die Akti­vi­tät des DMN und stärkt Netz­werke, die auf die Gegen­wart und die aktu­elle Auf­gabe aus­ge­rich­tet sind. Dadurch erle­ben viele Men­schen mit Pra­xis mehr Klar­heit im Kopf und weni­ger Gedankenkarussell.


Amyg­dala und prä­fron­ta­ler Kortex

Die Amyg­dala ist eine Art Alarm­zen­trum“ im Gehirn. Sie reagiert blitz­schnell auf poten­zi­ell bedroh­li­che Reize – oft bevor wir bewusst dar­über nachdenken.

Der prä­fron­tale Kor­tex dage­gen ist der Bereich, mit dem wir reflek­tie­ren, abwä­gen und bewusst steuern.

Stu­dien zei­gen: Regel­mä­ßige Acht­sam­keits­pra­xis ver­rin­gert die Über­re­ak­ti­vi­tät der Amyg­dala und stärkt gleich­zei­tig die Ver­bin­dung zum prä­fron­ta­len Kortex.

👉 Das bedeu­tet: Weni­ger impul­sive Stress­re­ak­tio­nen, mehr Spiel­raum für bewusste Entscheidungen.


Intero­zep­tion und Insula

Intero­zep­tion bezeich­net die Fähig­keit, innere Kör­per­zu­stände wahr­zu­neh­men – Herz­schlag, Atmung, Span­nun­gen, Wärme. Die Insula, ein zen­tra­les Hirn­areal, ist dabei maß­geb­lich beteiligt.

Acht­sam­keits­pra­xis schult diese Wahr­neh­mung: Wer früh­zei­tig merkt, dass der Kör­per in Anspan­nung geht, kann recht­zei­tig regu­lie­ren. So wird ver­hin­dert, dass Stress sich auf­schau­kelt, bis er kaum mehr steu­er­bar ist.

👉 Intero­zep­tion ist damit ein Schlüs­sel für Selbst­re­gu­la­tion im Alltag.


Herz­ra­ten­va­ria­bi­li­tät und Vagus

Die Herz­ra­ten­va­ria­bi­li­tät (HRV) beschreibt, wie fle­xi­bel sich der Herz­schlag an wech­selnde Anfor­de­run­gen anpasst. Sie ist ein Mar­ker für die Anpas­sungs­fä­hig­keit des Ner­ven­sys­tems.

Acht­sam­keit, beson­ders in Ver­bin­dung mit Atem­übun­gen, kann den Vagus­nerv akti­vie­ren und die HRV ver­bes­sern. Das bedeu­tet: mehr Zugang zum Beru­hi­gungs­sys­tem“ des Kör­pers und eine bes­sere Balance zwi­schen Anspan­nung und Erholung.

👉 Ein regu­lier­tes Ner­ven­sys­tem ist die Grund­lage für innere Ruhe.


Neu­ro­plas­ti­zi­tät

Das Gehirn bleibt form­bar – ein Leben lang. Acht­sam­keits­pra­xis führt zu erfah­rungs­ab­hän­gi­gen Ver­än­de­run­gen: Regio­nen, die mit Auf­merk­sam­keit, Selbst­wahr­neh­mung und Emo­ti­ons­re­gu­la­tion zu tun haben, zei­gen mehr Akti­vi­tät oder stär­kere Ver­bin­dun­gen (z. B. prä­fron­ta­ler Kor­tex, Hip­po­cam­pus, ACC).

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👉 Das zeigt: Acht­sam­keit ist kein kurz­fris­ti­ger Hack“, son­dern eine Pra­xis, die lang­fris­tig Spu­ren im Gehirn hin­ter­lässt – im posi­ti­ven Sinn.

Wenn wir acht­sam sind, mer­ken wir, wie Gedan­ken kom­men und gehen. Diese Erfah­rung ver­än­dert unser Ver­hält­nis zu uns selbst. Wir erken­nen, dass wir nicht jeder inne­ren Stimme glau­ben müs­sen. Es ent­steht mehr Weite, mehr Selbst­kon­takt. Für mich ist das einer der größ­ten Effekte von Acht­sam­keit: Sie bringt uns zurück in die Selbst­be­ob­ach­tung, ohne Bewer­tung, ohne Druck. Das ist der Boden, auf dem innere Stärke wach­sen kann.

So wirkt Acht­sam­keit auf deine Psyche

Auf­merk­sam­keits­steue­rung

Acht­sam­keit trai­niert die Fähig­keit, die Auf­merk­sam­keit bewusst zu len­ken. Du erin­nerst dich an die drei Aufmerksamkeitsnetzwerke:

  • Fokus­sie­ren: bei einer Auf­gabe blei­ben, auch wenn Ablen­kun­gen auftreten
  • Umlen­ken: Gedan­ken oder Impulse bemer­ken und die Auf­merk­sam­keit zurückholen.
  • Wei­ten: den Blick bewusst öff­nen, um die Gesamt­si­tua­tion im Auge zu behalten. 

Diese Fle­xi­bi­li­tät im Umgang mit Auf­merk­sam­keit ist ent­schei­dend im All­tag: Sie ver­hin­dert, dass wir uns in Details ver­lie­ren oder im Grü­beln fest­hän­gen, und stärkt unsere Fähig­keit, bewusst und situa­ti­ons­an­ge­mes­sen zu reagieren.

Dezen­trie­rung (Defu­sion)

Gedan­ken wir­ken oft abso­lut – als wären sie die Wahr­heit. Acht­sam­keit schafft Abstand: Ein Gedanke ist ein Ereig­nis im Geist, nicht mehr. Diese Fähig­keit wird auch Defu­sion“ genannt. Statt Ich bin unfä­hig“ fest­zu­schrei­ben, erkenne ich: Da ist gerade der Gedanke, dass ich unfä­hig bin.“

Die­ser kleine Per­spek­tiv­wech­sel redu­ziert die Macht belas­ten­der Gedan­ken und eröff­net Handlungsspielraum.

Akzep­tanz

Acht­sam­keit und Akzep­tanz sind eng ver­bun­den: Wahr­neh­men, was da ist – und inner­lich Raum geben, ohne sofort in Wider­stand oder Ver­mei­dung zu gehen.

Das bedeu­tet nicht, alles gut­zu­hei­ßen. Es heißt, die Rea­li­tät anzu­er­ken­nen, bevor ent­schie­den wird, wie man han­deln möchte.

👉 Hier kannst du mehr zum Thema Akzep­tanz erfah­ren: Akzep­tanz ver­ste­hen: Der Schlüs­sel zu Resi­li­enz und Selbstführung

Emo­ti­ons­re­gu­la­tion

Acht­sam­keit ver­än­dert, wie wir mit Gefüh­len umge­hen. Anstatt Emo­tio­nen zu unter­drü­cken oder ihnen aus­ge­lie­fert zu sein, kön­nen wir sie beob­ach­ten, anneh­men und bewusst modu­lie­ren. Das kann hei­ßen: den Ärger wahr­neh­men, die kör­per­li­che Span­nung spü­ren und dann ent­schei­den, wie man reagie­ren möchte – statt in den auto­ma­ti­schen Affekt zu rut­schen. Acht­sam­keit wird damit zur Grund­lage gesun­der Emo­ti­ons­re­gu­la­tion.

👉 Einen aus­führ­li­chen Arti­kel fin­dest du hier: Emo­ti­ons­re­gu­la­tion – alles, was du wis­sen musst

Selbst­mit­ge­fühl

Ein wei­te­rer Mecha­nis­mus ist die Hal­tung von Freund­lich­keit und Ver­ständ­nis gegen­über sich selbst. Viele Men­schen nei­gen zu har­ter Selbst­kri­tik. Acht­sam­keit schafft einen Raum, in dem man auch mit eige­nen Feh­lern und Begren­zun­gen mit­füh­lend umge­hen kann. Das bedeu­tet nicht Nach­sicht um jeden Preis, son­dern eine innere Hal­tung, die Ent­wick­lung ermög­licht, ohne stän­dig im Kampf mit sich selbst zu stehen.

👉 Wenn du mehr über den inne­ren Kri­ti­ker erfah­ren möch­test: Der innere Kri­ti­ker – wie du bes­ser mit die­ser inne­ren Stimme umge­hen kannst

Acht­sam­keit im Gebäude der Selbst­füh­rung und Resilienz

In mei­nen Semi­na­ren beschreibe ich Acht­sam­keit oft als Fun­da­ment. Ohne sie bleibt Selbst­füh­rung theo­re­tisch. Wenn du nicht wahr­nimmst, was in dir pas­siert, kannst du es auch nicht steu­ern. Acht­sam­keit schafft Bewusst­sein für diese fei­nen inne­ren Bewe­gun­gen – kör­per­lich, emo­tio­nal, gedank­lich. Erst dadurch wird Resi­li­enz leben­dig: Sie ent­steht, wenn Wahr­neh­mung und Hand­lung wie­der mit­ein­an­der ver­bun­den sind.

Acht­sam­keit als Fun­da­ment der Selbstführung

  • In mei­nem Modell bil­det Selbst­füh­rung das Dach – die bewusste Gestal­tung des eige­nen Lebens.
  • Acht­sam­keit ist das Fun­da­ment, weil sie Wahr­neh­mung ermög­licht und damit die Vor­aus­set­zung für Selbst­re­gu­la­tion schafft.
  • Diese Selbst­re­gu­la­tion zeigt sich in ver­schie­de­nen For­men – emo­tio­nal, kogni­tiv und kör­per­lich –, aber sie alle basie­ren auf der­sel­ben Fähig­keit: inne­zu­hal­ten, wahr­zu­neh­men und bewusst zu steuern.
  • Wenn Fun­da­ment, Säu­len und Dach mit­ein­an­der ver­bun­den sind, ent­steht Resi­li­enz – die Fähig­keit, sta­bil und gleich­zei­tig fle­xi­bel auf das Leben zu reagieren. 

Nut­zen und Wir­kung von Achtsamkeit

Viele erwar­ten, dass Acht­sam­keit sofort Ruhe bringt. Doch oft zeigt sich zuerst das Gegen­teil: Unruhe, Gedan­ken­flut, Span­nung. Du machst nichts falsch, son­dern das ist der Moment, in dem wir wirk­lich sehen, wie es in uns aus­sieht. Wenn du dabei bleibst, beginnt sich das Sys­tem selbst zu regu­lie­ren. Die Ruhe ent­steht nicht, weil du sie erzwingst, son­dern weil dein Ner­ven­sys­tem lernt, Ver­trauen in den Moment zu fas­sen. So wird Acht­sam­keit zu einer ech­ten Res­source – nicht als reine Tech­nik, son­dern als innere Haltung.

Sub­jek­tive Erfahrungen

Viele Men­schen beschrei­ben, dass sie durch Acht­sam­keit inner­lich ruhi­ger wer­den. Nicht, weil Pro­bleme ver­schwin­den, son­dern weil sie kla­rer sehen kön­nen, was gerade pas­siert. Diese Klar­heit schafft Über­sicht: Was ist jetzt wirk­lich wich­tig, was kann war­ten, was ist viel­leicht gar nicht so bedroh­lich, wie es sich im ers­ten Moment anfühlt? So ent­steht das Gefühl, das eigene Leben wie­der in der Hand zu haben“, statt von Gedan­ken und Gefüh­len getrie­ben zu werden.

Psy­cho­lo­gi­sche Effekte

Aus der psy­cho­lo­gi­schen For­schung wis­sen wir: Acht­sam­keit redu­ziert Ten­den­zen zum Grü­beln und ver­bes­sert die emo­tio­nale Balance. Wer regel­mä­ßig übt, ent­wi­ckelt mehr Distanz zu belas­ten­den Gedan­ken – sie wir­ken nicht mehr wie unum­stöß­li­che Wahr­hei­ten, son­dern wer­den als Ereig­nisse im Geist erkenn­bar. Das ver­än­dert den Umgang mit Stress, aber auch mit Selbst­zwei­feln und Kri­tik. Gleich­zei­tig stärkt Acht­sam­keit die Fähig­keit, Gefühle anzu­neh­men, ohne von ihnen über­wäl­tigt zu werden.

Neu­ro­bio­lo­gi­sche Veränderungen

Stu­dien zei­gen, dass Acht­sam­keits­pra­xis die Stress­netz­werke im Gehirn posi­tiv beein­flusst. Die Amyg­dala reagiert weni­ger hef­tig, wäh­rend prä­fron­tale Areale, die für Refle­xion und Steue­rung zustän­dig sind, stär­ker ein­ge­bun­den wer­den. Auch die Insula – wich­tig für Kör­per­wahr­neh­mung – zeigt ver­än­derte Akti­vi­tät. Diese Ver­än­de­run­gen gehen mit einer bes­se­ren Regu­la­tion von Stress und einer grö­ße­ren Fle­xi­bi­li­tät des Ner­ven­sys­tems ein­her. Das bedeu­tet: nicht weni­ger Her­aus­for­de­run­gen im Leben, aber mehr innere Res­sour­cen, um ihnen zu begegnen.

Gren­zen und Realismus

So wert­voll diese Effekte sind – Acht­sam­keit ist kein All­heil­mit­tel. Sie ersetzt keine medi­zi­ni­sche oder the­ra­peu­ti­sche Behand­lung. Die Wir­kung ent­fal­tet sich nicht über Nacht, son­dern ent­steht durch regel­mä­ßige Übung. Und: Sie ist nicht für jede Situa­tion geeig­net. In aku­ten Kri­sen oder bei unbe­han­del­ten Trau­ma­fol­ge­stö­run­gen kann Acht­sam­keit über­for­dern, wenn sie ohne Beglei­tung ein­ge­setzt wird.

👉 Des­halb ist wich­tig: Acht­sam­keit wirkt nach­hal­tig, wenn sie mit Geduld, Dosie­rung und rea­lis­ti­schen Erwar­tun­gen prak­ti­ziert wird.

Trau­ma­sen­si­ble Hinweise

Acht­sam­keit kann heil­sam sein, aber nicht jeder Moment ist dafür geeig­net. Wenn alte Erin­ne­run­gen oder Über­er­re­gung auf­tau­chen, braucht es Halt und Dosie­rung. In mei­ner Arbeit sehe ich immer wie­der, wie wich­tig Erdung ist: den Kör­per spü­ren, den Raum wahr­neh­men, atmen. Acht­sam­keit soll sta­bi­li­sie­ren, nicht über­flu­ten. Darum ist es so wesent­lich, die Pra­xis an das eigene Ner­ven­sys­tem anzu­pas­sen und bei Bedarf Unter­stüt­zung zu suchen.

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Acht­sam­keit ist nicht in jedem Kon­text hilf­reich. Für die meis­ten Men­schen ist sie eine wert­volle Res­source, doch bei bestimm­ten Vor­er­fah­run­gen kann sie Über­for­de­rung auslösen.

Akute Trau­ma­fol­ge­stö­run­gen: Wer mit unbe­han­del­ten trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen lebt, kann durch die Fokus­sie­rung nach innen ver­stärkt in Erin­ne­run­gen oder Über­flu­tun­gen geraten.

Hohe Belas­tung oder Stress­spit­zen: Auch hier kann eine Übung zunächst eher Unruhe ver­stär­ken, wenn sie ohne Anlei­tung durch­ge­führt wird.

Wich­tig ist des­halb eine trau­ma­sen­si­ble Hal­tung:
Erdung: Auf­merk­sam­keit bewusst auf die Umge­bung oder den Kör­per len­ken (z. B. Füße am Boden, Blick im Raum).
Äußere Anker: Klänge, Gegen­stände oder Bewe­gung kön­nen hel­fen, im Hier und Jetzt ver­an­kert zu blei­ben.
Dosie­rung: Kurze, wohl dosierte Übun­gen sind oft hilf­rei­cher als lange Medi­ta­tio­nen.
Beglei­tung: Bei star­ken Sym­pto­men ist es sinn­voll, Acht­sam­keits­pra­xis nur in pro­fes­sio­nel­ler Beglei­tung einzusetzen.

Acht­sam­keit soll stär­ken, nicht über­for­dern. Trau­ma­sen­si­bi­li­tät heißt des­halb: behut­sam dosie­ren, indi­vi­du­elle Gren­zen respek­tie­ren und bei Bedarf fach­li­che Unter­stüt­zung hinzuziehen.

Fazit: Dein Weg zu mehr Achtsamkeit

Für mich ist Acht­sam­keit kein Ziel, son­dern eine Art, durchs Leben zu gehen. Es ist der Moment, in dem du inne­hältst, bevor du reagierst. Der Moment, in dem du dich selbst wahr­nimmst, bevor du dich ver­lierst. Viel­leicht ist das der stillste, aber zugleich kraft­vollste Aus­druck von Selbst­füh­rung: bewusst da zu sein – mit allem, was gerade ist.

Acht­sam­keit kein Tool, das man bei Bedarf aus dem Kel­ler holt. Sie ist ein Weg, das Leben bewusst zu gestal­ten. Acht­sam­keit bedeu­tet: inne­hal­ten, wahr­neh­men, prä­sent sein – bevor man han­delt. Dadurch ent­steht ein Moment von Klar­heit, und in die­sem Moment liegt Wahl­frei­heit: Reagiere ich auto­ma­tisch, oder ent­scheide ich mich bewusst?

Im All­tag zeigt sich das nicht in spek­ta­ku­lä­ren Übun­gen, son­dern in klei­nen Ges­ten: beim Essen wirk­lich schme­cken, beim Zuhö­ren prä­sent blei­ben, beim Atmen kurz die Auf­merk­sam­keit in den Kör­per holen. Diese Momente wir­ken unschein­bar – und gerade darin liegt ihre Kraft.

Acht­sam­keit als Hal­tung heißt: Das Leben nicht an sich vor­bei­lau­fen las­sen, son­dern wach im Kon­takt sein – mit sich selbst, mit ande­ren, mit der Situa­tion. Es geht nicht darum, stän­dig per­fekt acht­sam zu sein, son­dern immer wie­der bewusst zurück­zu­keh­ren in den Moment.


Häu­fige Fra­gen (FAQs) kurz beantwortet

Ist Acht­sam­keit das­selbe wie Meditation?

Nein. Medi­ta­tion ist eine Übungs­pra­xis, Acht­sam­keit eine Hal­tung. Medi­ta­tion kann Acht­sam­keit för­dern, aber man kann acht­sam sein, ohne for­mell zu medi­tie­ren – etwa beim Gehen, Essen oder Zuhören.

Hilft Acht­sam­keit gegen Grübeln?

Ja, viele Men­schen erle­ben, dass Acht­sam­keit das stän­dige Gedan­ken­krei­sen unter­bricht. Der ent­schei­dende Punkt ist: Gedan­ken wer­den als men­tale Ereig­nisse erkannt, nicht als unum­stöß­li­che Wahr­hei­ten. Das schafft Abstand zum inne­ren Autopiloten.

Muss ich dafür reli­giös sein?

Nein. Acht­sam­keit hat zwar spi­ri­tu­elle Wur­zeln in vie­len Tra­di­tio­nen, wird heute aber in Psy­cho­lo­gie, Medi­zin und Päd­ago­gik unab­hän­gig von Reli­gion ange­wen­det. Sie ist eine uni­ver­selle mensch­li­che Fähigkeit.

Ist Acht­sam­keit ein­fach nur Entspannung?

Nein. Ent­span­nung kann auf­tre­ten, ist aber nicht der eigent­li­che Zweck. Acht­sam­keit bedeu­tet, wach und prä­sent zu sein – auch wenn der Moment gerade anstren­gend, unan­ge­nehm oder her­aus­for­dernd ist.

Portrait Marion Wandke

Marion Wandke

Seit über 15 Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, wie Menschen in komplexen Lebensphasen innerlich klar und handlungsfähig bleiben können. Mich interessieren besonders die Wechselwirkungen zwischen Denken, Fühlen und Körperwahrnehmung – dort, wo Selbstregulation gefordert ist.

Ich arbeite heute als Resilienz-Coachin mit Fokus auf humanistischer Psychologie und Psychotherapie, Neurowissenschaften und Embodiment. Mein Schwerpunkt liegt auf Selbstführung und Selbstregulation als Schlüsselkompetenz. Ich bin überzeugt, dass echte innere Stärke aus Klarheit, Werteorientierung und Selbstführung entsteht.

Mehr über mich und meine Arbeit findest du auf meiner „Über-mich“-Seite.